Stadt aus Stein, Stadt im Stein
Matera, das streng genommen bereits in der Basilicata liegt und nicht mehr in Apulien, ist ein Stein gewordener Traum. Ein Wimmel-Traum, um genau zu sein. Die Stadt liegt spektakulär oben am Rande einer tiefen Gravina, einer Schlucht, die von zahlreichen Höhlen im weichen Kalk- und Tuffstein durchzogen ist. Im frühen Mittelalter gruben Mönche dort ihre freskenverzierten Höhlenkirchen hinein. Die Höhlen waren wohl bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. bewohnt, und bewohnt sind sie auch heute noch. Genau dafür ist Matera in den 1930-er Jahren zu trauriger Berühmtheit gelangt. Damals hat der Autor Carlo Levi in seinem Roman »Christus kam nur bis Eboli« (und Eboli liegt immerhin nördlich des Cilento!) von Krankheit, Schmutz und Elend der Höhlenbewohner/-innen geschrieben.
Heute sind die Sassi UNESCO-Weltkulturerbe und Kult. Sie werden restauriert, und in den Höhlen entstehen schicke Hotels, edle Restaurants und teure Läden, und sie sind beliebter Schauplatz nicht nur für Sandalenfilme: auch 007 lieferte sich hier schon eine rasante Autojagd!

Tra due Sassi
Matera ist kaum zu beschreiben, man muss es gesehen und sich erlaufen haben. Oben herum bildet die Neustadt eine geschäftige und sehr lebendige Kulisse. Die Hänge der Gravina hinunter liegen die beiden Sassi, also die Höhlenviertel. Der eine, der Sasso Caveoso, scheint etwas touristischer zu sein als der andere, der Sasso Barisano. Beide sind so romantisch, verwinkelt und verwunschen, dass wir praktisch um jede Ecke gucken und dann »Ah« und »Oh« und »Klick« machen müssen. Und es gibt echt viele Ecken hier …
Die perfekte Stadt, um sich gründlich zu verzetteln!
Sasso Caveoso
Der Sasso Cavesoso wimmelt von Höhlenkirchen, den »Chiese rupestri«, und wir finden auf Anhieb gleich zwei »Case Grotte«: hier wird gezeigt, wie die Höhlenwohnungen früher ausgesehen haben. Der Sasso wird dominiert vom Monterrone, einem auffälligen Steinhaufen am Rande der Schlucht, der oben einen Vista Point bietet und innen, wie es sich gehört, gleich zwei Chiese rupestri. Hinten herum läuft man direkt oben an der Gravina-Kante entlang, mit sehr geilen Views!
Sonst findet man hier ein ganz und gar hinreißendes Straßen- und Häusergewirr, mit Plätzen und Plätzchen, Treppen und Treppchen, Häusern und Häuschen. Und einem engagierten Pfarrer, der für seine Kirche etwas Ehrfurcht und »Silentium!« einfordert. Für diesen Ort hat man das »sich treiben lassen« erfunden. Unwahrscheinlich, dass man hier sein Ziel jemals durch Zielstrebigkeit erreichen könnte ...
Ein Stück weiter führt die Via Madonna delle Virtù direkt an der Gravina entlang und bildet auch den Einstieg in die weiter unten beschriebene Wanderung. Im Sasso wimmelt es neben Kirchen auch von touristengerechten Bars und Lokalen, es lässt sich hier im warmgelben Gaslampenlicht sehr stimmungsvoll essen – und schlendern. Leider sind wir nur ein paar Schritte von unserem Ferienhaus entfernt, auch nachts möchte man hier ewig durch die stillen Gassen streifen!
Sasso Barisano
Die Grenze zwischen den beiden Sassi ist für uns Touris schwer zu identifizieren, aber wohl irgendwo beim Dom zu finden. Der Zugang zum Sasso führt von unten über die Via Madonna delle Virtù zum Dom (oder auch daran vorbei, wenn man wie wir zu zielstrebig ist) oder von oben her über die Neustadt, zum Beispiel entlang der »Straße der sieben Schmerzen«. Der Dom dominiert die Skyline von beiden Seiten. Trotzdem laufen wir eine sehr angenehme Weile immer drumherum und müssen ihn am Ende ganz direkt anpeilen, damit er uns nicht nochmal entkommen kann ...
Der Sasso Barisano fühlt sich etwas authentischer an als der Caveoso, hier gibt es mehr unaufgeräumte Ecken. Fast haben wir den Eindruck, als würden hier noch echte Menschen wohnen!!! Jeder Ausblick ist ein neues Wimmelbild aus Fenstern und Türmen und Gassen und Treppen und wunderschön, egal in welche Richtung wir schauen: von der Kathedrale hinunter oder zur Kathedrale hinüber. Wir könnten Stunden so stehen und schwelgen!
Der unbekannte Sasso: Casalnuovo
Zu diesem Sasso findet sich nicht viel an Information. Wir wissen nicht mal sicher, ob es ein eigener Sasso ist; allerdings haben wir den Namen ja auch nicht erfunden. Jedenfalls ist es der südlichst gelegene und am direktesten in den Gravina-Hang hineingebaute Stadtteil. Rege Bautätigkeiten sind im Gange, offenbar hat man hier nicht lange zuvor mit der Restaurierung begonnen. Das erlaubt uns den einen oder anderen Blick in eine Höhlenwohnung im Originalzustand. Von hier hat man einen direkten Blick in die Gravina, und wohl das urtümlichste Stück Matera vor sich, das noch existiert ...
Die Case Grotte
Die Case Grotte geben einen sehr hautnahen und plastischen Eindruck, wie die Leute hier bis in die 1950er Jahre hinein in bitterster Armut gelebt haben – ohne Kanalisation, praktisch ohne Frischluftzufuhr und Licht, gemeinsam mit ihren Tieren in einem Raum. Sogar ihre Teller mussten sie nähen, wenn sie kaputt gingen. Eben die Schande Italiens (»Vergogna nazionale«), weshalb ab den 1950ern die gesamte Einwohnerschaft in die Neustadt umgesiedelt wurde – zum Teil unter Zwang. Denn nach dem 2. Weltkrieg mit dem aufkeimenden Tourismus waren derartige Slums untragbar geworden.
Wer es sich damals leisten konnte, hatte schon vorher an die ursprüngliche Wohnhöhle einen externen Anbau (mit Fenstern! mit Luft!) angefügt; die alte feuchte Höhle wurden dann als Stall oder Lager, manchmal auch als Weinkeller oder Zisterne genutzt.
Die Neustadt
Wir geben zu: von der Neustadt haben wir gar nicht so viel gesehen. Natürlich sind wir durchgelaufen, wir haben dort Pinsa geholt und waren im Supermercato. Wir sind über einige Piazze und an einigen Chiese vorbei gelaufen. Denn auch hier gibt es einige bedeutsame sakrale Bauten, meist gar nicht ganz so neu, sondern überwiegend aus dem 13. Jahrhundert. Zwischendrin stehen verstreut ein paar Skulpturen des Surrealisten Salvador Dalí, seinerseits zumindest signatives Vorbild für unseren Didí, aus dem 20. Jahrhundert. Und da fügen sich ein Stelzenelefäntlein und ein schmelzendes Zifferblatt überraschend gut in diese Kulisse ein.
Hinter der Neustadt und um das Castello herum liegt dann die moderne Neustadt mit eher unhübschen Wohnblöcken und wenig Romantik – aber mit Parkplätzen! Neben Dalí gibt es selbstverständlich auch eine einheimische Künstlerseele, die die Welt mittels über Neu- und Alltstadt verstreute Mülleimerpoesie an ihrer Weisheit teilhaben lässt: wir grüßen herzlichst den/die Poeta della serra.
Matera Underground: die Zisterne Palombaro Lungo
Mindestens ein Stockwerk unter Matera, in Matera Sotteraranea, lässt sich die Zisterne des »Langen Tauchers« aus dem 13. Jhdt. besichtigen. Die Zisterne fasst bis zu fünf Millionen Liter (!!!) Wasser und gilt als Meisterwerk der Ingenieurskunst. Wir finden, sie ist außerdem ein Meisterwerk der Architektur, erinnert sie mit ihren hochstrebenden Decken und monumentalen Säulen doch eher an eine Kathedrale.
Dass es sie überhaupt gibt, war im Laufe des 20. Jahrhunderts irgendwie in Vergessenheit geraten (was man jetzt nicht unbedingt verstehen muss ...); erst bei der Neugestaltung der darüberliegenden Piazza Vittorio Veneto wurde sie 1991 quasi wiederentdeckt und später der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Wanderung nach gegenüber: volles Panorama!
Diese (kurze) Wanderung zum Belvedere della Murgia Materana ist ein absolutes Muss und Mega-Highligt. Der Einstieg geht unten von der Via Madonna delle Virtù ab und ist dort leicht zu finden. Zuerst geht es steil bergab, mit Megablick auf ›unseren‹ Sasso Caveoso. Die Hängebrücke haben wir schon von oben gesehen, über die wir dann auf die andere Seite der Gravina geschwankt sind.
So eine Hängebrücke ist übrigens eine recht wackelige Angelegenheit, und so eine Gravina ist eine recht steile Angelegenheit. Oben sind wir auf einige Höhlen gestoßen. Kaum zu glauben, dass Menschen hier einmal richtig gewohnt haben. Aber: der Ausblick, den sie hatten, ist wirklich unbezahlbar! Auch wenn es die Stadt, wie sie heute ist, damals natürlich noch gar nicht gegeben hat. Aber Wohnhöhlen gab es ja gegenüber schon auch, also die etwas andere Sorte von Stadtblick ...

Auch in zwei Felsenkirchen mit ihren schönen alten Fresken konnten wir einen Blick werfen.
Und dann der Blick von oben – einfach umwerfend! Die dramatische Schlucht, die sich links und rechts an Matera vorbeiwindet. Gegenüber der alte, noch recht unerschlossene Sasso Casalnuovo, der sich noch in Sanierung befindet (siehe oben). Freier Panoramablick auf die beiden anderen Sassi Caveoso und Barisano. Einfach nur wunderschön und schade, dass wir nicht mehr Zeit mitgebracht haben. Eine richtige Gravina-Wanderung hätte uns schon sehr gelockt.